VDMA: „Plattformökonomie gehört im Maschinen- und Anlagenbau zwingend auf Vorstandsebene“

55 Prozent der deutschen Industrieunternehmen kennen den Begriff „Plattformen“ nicht; weitere 29 Prozent halten dieses Geschäftsmodell für irrelevant. Ein großer Fehler, warnt der Verband der Maschinen- und Anlagenbauer in einer neuen Studie.

Von Hamidreza Hosseini und Holger Schmidt

Plattformen als dominantes Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie gewinnen jetzt auch im Maschinen- und Anlagenbau an Bedeutung. „Digitale Plattformen werden im Maschinenbau eine immer größere Rolle einnehmen. Die Wertschöpfung in der Maschinenbauindustrie erfolgt immer stärker durch digitale Services“, lautet das Ergebnis einer VDMA-Studie zur Plattform-Ökonomie. Weltweit existieren inzwischen etwa 500 Plattformen für das Internet der Dinge und der Markt wächst jährlich um rund 40 Prozent. : „Die großen Hürden für Maschinenbauunternehmen bestehen darin, sich der Relevanz von Plattformen für das eigene Geschäft sowie der bisherigen – aber auch neuer – Kundengruppen bewusst zu werden. Zusätzliche Hardware-Umsätze, gesteigerte Kundenbindung oder Differenzierung im Wettbewerb durch neue digitale Services – je nach Zielstellung kommen unterschiedliche Plattformarten für das Unternehmen in Frage“, heißt es in der Studie.

Ökonomische Plattformen, in der Studie definiert als Intermediäre, die Markteilnehmer mit Hilfe digitaler Technologien über eine Plattform verbinden und deren Interaktion vereinfachen, sind in der Konsumentenwelt schon weit verbreitet. 7 oder 8 wertvollsten Unternehmen der Welt arbeiten nach diesem Modell. Deutschlands B2B-Unternehmen sind davon aber noch ein großes Stück entfernt, wie eine aktuelle Repräsentativumfrage des Bitkom zeigt. Danach kennen 55 Prozent der befragten Industrieunternehmen in Deutschland den Plattform-Begriff nicht; weitere 29 Prozent haben Plattformen für sich als irrelevant eingestuft. Die Ignoranz könnte Folgen haben: „In zehn Jahren werden sich die deutschen Industrieplayer fragen, warum sie nicht die führende Plattform für Maschinen aufgebaut haben“, warnt Peter Schmid von Wer-liefert-was.

Im Bereich der Marktplätze entstehen derzeit vor allem vertikal strukturierte Plattformen. Dabei bietet ein Unternehmen seine Produkte, das Zubehör, die Ersatzteile und Services und eventuell auch Gebrauchtmaschinen über die Plattform an. Ergänzt wird dieses Angebot von Anbietern von Rohmaterialien, Logistikdienstleistern, Finanzierungsdienstleistern oder Softwarehäusern. Der Kunde kann sich so rund um das Kernprodukt mit allen relevanten Gütern und Leistungen auf der gleichen Plattform bedienen. Allerdings handelt es sich oft noch um Plattformen der ersten oder zweiten Generation, die eher den Charakter von Marktplätzen haben, also kaum Netzwerkeffekte schaffen und auch die Informationsökonomie vernachlässigen.

Quelle: VDMA

Die Plattformen (mit Marktplätzen als frühe Formen der Plattformen) sollen drei wesentliche Mehrwerte bringen:

  • Transaktionskosten senken, weil die Kosten der Geschäftsanbahnung sinken und Standards die Kommunikation/Abwicklung der Transaktion vereinfachen.
  • Neue Services und Geschäftsmodelle ermöglichen, zum Beispiel Predictive Maintenance pder Pay-per-Use-Modelle.
  • Steigender Nutzen durch Netzwerkeffekte, was für die Plattform-Verweigerer zum Verlust der Kundenbeziehung führen kann und daher ein hohes Disruptionspotenzial für bestehende Strukturen aufweist. (Wer es nicht glaubt, der sollte auf die Entwicklungen in den Bereichen Handel, Reise, Kommunikation oder Mobilität schauen, wo genau das passiert ist)

Die Zurückhaltung der deutschen Unternehmen ist Grund genug für den Verband, einen Wake-Up-Call an seine Mitglieder zu richten: „Das Thema Plattform-Ökonomie gehört zwingend auf Vorstands- und Geschäftsführungsebene verankert. Unternehmen müssen sich für die Plattformökonomie eine klare Strategie erarbeiten“, fordert VDMA-Geschäftsführer Hartmut Rauen. Immerhin: Einige große deutsche Player wie Siemens, SAP, Bosch oder die Mittelstandsinitiative Adamos mischen kräftig mit, anlockt von der Erwartung, künftig einen erheblichen Teile der Wertschöpfung an sich zu ziehen. Denn die erwarteten Herausforderungen für den Maschinen- und Anlagenbau sind umfangreich.

1. Verschiebung wesentlicher Wertschöpfungs- und Umsatzanteile zu digitalen Services (Services laufen auf Plattformen.

2. Preisbildungsmechanismus sowie Zahlungsbereitschaft der Kunden für digitale Services sind in den meisten Segmenten unklar.

3. Völlig neuartige Know-how-Anforderungen im Vergleich zum Kerngeschäft (digitale Services/Apps, Geschäftsmodelle).

4. Komplexität der B2B-Landschaft erzeugt Vielzahl von Plattformen, aber mittel- bis langfristig ist jedoch eine Konsolidierung innerhalb von Industriezweigen zu erwarten.

5.  Zu erwartender steigender Wettbewerbsdruck im Maschinen- und Anlagenbau aufgrund neuer Differenzierungsmöglichkeiten.

Blueprint für den Bau einer modernen Plattform

Die Plattformökonomie ist dabei, nahezu alle Branchen maßgeblich zu verändern, auch den Maschinen- und Anlagenbau. Geschäftsfelder werden ersetzt, verändert und erneuert. Sofern Grundsatzfragen wie Strategie und das gemeinsame Verständnis geklärt sind, kann entlang eines Blue Prints Schritt für Schritt idealerweise in einer agilen Vorgehensweise mit der Konzeption, Planung und Umsetzung des Plattformgeschäftsmodells gestartet werden.

Grundsätzlich können unterschiedliche plattformökonomische Szenarien und Geschäftsmodelle in der Industrie etabliert werden. Die folgenden Szenarien sind Beispiele für Ansätze, die unter anderem je nach Strategie miteinander kombiniert werden können

1. Plattformen mit Fokus auf Teilung der Ressourcen, Kapazitäten und Fähigkeiten

In diesem Szenario bilden vorerst Industriepartner aus dem entsprechenden Ecosystem eine Allianz, um unter anderem folgende Kernelemente zu teilen:

  • Ressourcen wie Maschinen oder Anlagen,
  • Kapazitäten im Bereich von Produktionsstraßen, Materialfluss, Lager & Logistik usw. und
  • Fähigkeiten wie die Nutzung komplementärer Forschung und Entwicklung Einheiten, Teilung von Erfahrung im Rahmen einer horizontalen und/ oder vertikalen komplementären Wertschöpfung.

2. Plattformen mit Fokus auf Produkt-/ Service-Allianz

Ein weiteres Szenario der Industrieplattformen sind die Allianzplattformen, die komplementär die Produkte und Services der Ecosystempartner miteinander ergänzen. Der Plattformbetreiber ermöglicht es, dass die Industriepartner gezielt über die Plattform ihre Produkte und Services auf unterschiedliche Ebenen und mit unterschiedlichen Diversifikationsansätzen (z. B. horizontale oder vertikale Wertschöpfung) miteinander kombinieren und ihren Kunden anbieten. Diese Allianzen stärken auf der einen Seite die gemeinsame Wertschöpfung und auf der anderen Seite die Portfolio- und Sortimentgestaltung der einzelnen Partner. Dies führt wiederum dazu, dass mehr Portfolio-Angebot zu einer besseren Markt- und Bedarfsabdeckung der Kunden führt, was wiederum zu mehr Interaktionen und zuletzt Einnahmen durch mehr Netzwerkeffekte führt.

3. Plattformen mit Fokus auf Veränderung der Marktmechanismen und Ecosysteme

Diese Plattformen fokussieren auf die Interaktions- und Handelsmechanismen: Der Plattformbetreiber führt Ecosystempartner zusammen, die über Marktmacht mit ihren Handelsmechanismen oder ihren Kundenzugängen verfügen. Durch die Zusammenführung solcher Allianzpartner erweitert sich der Marktzugang und die Anzahl der indirekten Kunden (Kunden des Ecosystempartners). Dies führt wiederum dazu, dass mehr Interaktionen durch die Kunden der Ecosystempartner stattfinden, was wiederum zu mehr Einnahmen durch die Netzwerkeffekte führt

4. Plattformen mit Fokus auf Daten und Technologie

Hier führt der Plattformbetreiber je nach Schwerpunkt unterschiedliche Ecosystempartner zusammen. Ecosystempartner können (unter Berücksichtigung der DSGVO-Richtlinien) ihre komplementären Daten (z. B. Produktion, Fertigung oder Materialfluss) gemeinsam nutzen, analysieren, partnerübergreifend Erkenntnisse daraus erzielen und diese wiederum im Tagesgeschäft einsetzen (z. B. datengetriebene Produkte und Services entwickeln). Bei den Plattformen mit Fokus auf Technologie führt der Plattformbetreiber die Industriepartner zusammen, die z. B. ihre IoT-Produkte oder -Services oder Smart Factory Komponenten bis zur Smart Business Modelle zusammenführen. Dadurch entstehen unterschiedliche Möglichkeiten, um intelligente Komponenten oder Teil eines intelligenten industriellen Geschäftsmodells miteinander zu kombinieren. Einnahmen entstehen durch die Netzwerkeffekte bei der Nutzung und Monetarisierung gemeinsamer Daten und/ oder bei der Nutzung und Vermarktung gemeinsamer Technologien.

Ist das Plattform-Geschäftsmodell ausgearbeitet, steht die Umsetzung an. Dabei gilt: Hoffnung ist keine Strategie! Idealerweise werden in allen zuvor genannten Szenarien Plattformen nach der Anfangsphase (Aufbau und Etablierung) weitere Ecosystem-Partner in der Plattform involvieren (oder zugelassen), so dass mit mehr Partnern mehr Ressourcen, Kapazitäten und Fähigkeiten zur Verfügung stehen. Dadurch entstehen mehr Interaktionen und Einnahmen durch Netzwerkeffekte für den Plattformbetreiber. Weiterhin entstehen mittelbar oder unmittelbar Auswirkungen auf die Kunden der Ecosystempartner haben werden.

Grundsätzlich sind folgende Modelle denkbar:

1. Ein eigenes Plattformgeschäftsmodell aufbauen: Dieses Modell empfiehlt es sich für Unternehmen, die als Plattforminitiator und Vorreiter auf dem Markt Plattformmodelle etablieren wollen.

2. Eine Plattform mit weiteren Partnern aufbauen: Dieses Modell ist geeignet für Plattforminitiatoren, die im Vorfeld komplementäre Elemente miteinander verbinden und eine gemeinsame Strategie verfolgen.

3. Bestehende Plattformen als Absatzkanal nutzen: Grundsätzlich empfiehlt es sich, dass jedes Industrieunternehmen die existierenden Plattformen als einen weiteren Absatzkanal im Rahmen der Absatzkanalstrategie nutzt.

Für die agile und schrittweise Umsetzung der plattformökonomischen Geschäftsmodelle existieren unterschiedliche Vorgehensmodelle. Eines der praxiserprobten Modelle ist das Vorgehensmodell der Massachusetts Institute of Technology® und Boston University®, die mittlerweile bei der Umsetzung von unterschiedlichen modernen B2B-Plattformen Anwendung finden.

Mehr Infos: Platformeconomy.com