Der große Plan des Jeff Bezos

Unermüdlich baut Amazon-Chef Jeff Bezos sein Imperium aus. Handel, Cloud, Logistik, Raketen und sogar eine Zeitung sowie ein Privatvermögen von 65 Milliarden Dollar gehören dazu. Dabei ist sein Plan ganz einfach.

Das Mindestgewicht für die Aufnahme in die Football-Mannschaft erreichte er nur mit Mühe. „Ich hatte nicht erwartet, dass er sich dort durchsetzt“, erinnert sich seine Mutter Jackie. Nur zwei Wochen später war er schon Mannschaftskapitän. Nicht, weil er besonders schnell lief oder präziser als seine Mitspieler warf. Sondern weil er sich als Einziger die Laufwege der verschiedenen Spielzüge merken konnte. Nicht nur seien eigenen Wege, sondern die aller Mitspieler gleich mit.

Inzwischen ist der Footballspieler von damals 52 Jahre alt. Körperlich immer noch ein Leichtgewicht, aber wirtschaftlich ist er als Chef der wohl dynamischsten Firma der Welt aber höchst erfolgreich: Jeff Bezos, der nimmermüde Gründer des Online-Händlers Amazon, besitzt ein Vermögen von etwa 65 Milliarden Dollar, trimmt sein Unternehmen aber auch 22 Jahre nach der Gründung täglich auf neue Höchstleistungen. Inzwischen lässt er seine Waren von eigenen Robotern, Flugzeugen und bald auch Drohnen zu seinen 300 Millionen Kunden transportieren, investiert viele Millionen Dollar in künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge, produziert eigene Fernsehserien und expandiert zwischendurch auch noch nach Australien. Und wenn andere Unternehmenslenker seiner Klasse in ihrer knappen Freizeit Golf spielen oder Berge besteigen, schießt Bezos Raketen in den Weltraum, investiert in Internetfirmen und rettet nebenbei noch eine Traditionszeitung.

Sein Erfolgsrezept klingt recht simpel: Er verfolgt einen Plan. Oft über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte arbeitet er akribisch auf seine Ziele hin und lässt sich von niemandem aus der Ruhe bringen. „Ich habe festgestellt, dass es fünf bis sieben Jahre dauert, bis eine Saat unserem Unternehmen nennenswerte finanzielle Früchte beschert. Ich kenne zwar keinen Grund, warum es so sein sollte, aber meistens ist es so“, erklärt Bezos. In dieser Zeit lässt er sich von nichts und niemandem von seinem Plan abbringen. Am wenigsten von den Börsianern, die zuerst seine Strategie der günstigen Finanzierung mit Hilfe einbehaltener Gewinne kritisierten und später seinen Einstieg in das Cloud-Computing nicht verstanden.

Heute bilden genau diese beiden Entscheidungen das Rückgrat des Konzerns: Amazon hat im Cloud-Geschäft einen Weltmarktanteil von 45 Prozent, erzielt etwa zehn Milliarden Dollar Umsatz in diesem Jahr und ist zudem hochprofitabel. Das Geschäft sieht Bezos aber noch am Anfang, denn das nächste große Wachstumsfeld, das Internet der Dinge, ist bereits fest in seinem Blick. Die Google/Alphabet-Tochter Nest nutzt AWS und Tata Motors überwacht 2500 Trucks auf den Straßen in Indien in Echtzeit mit Hilfe der Amazon-Cloud. „Das gesamte Industrielle Internet der Dinge explodiert gerade. Jeder Hersteller verknüpft seine Maschinen mit dem Internet. Wir sehen enorme Effizienzvorteile“, sagte Cloud-Chef Werner Vogels.

Große Chancen im Internet der Dinge

Den Gewinn, den Vogels erwirtschaftet, investiert Bezos in die Expansion seines Handelsgeschäfts, um der Konkurrenz weiter zu enteilen. Denn am Ende seiner Pläne ist er noch lange nicht. Bezos baut ein Logistikzentrum nach dem anderen. In den USA kann er inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung innerhalb einer halben Stunde beliefern.

Auch in Deutschland, einem der wichtigsten Auslandsmärkte, wurde gerade der Bau dreier neuer Logistikzentren bekanntgegeben – zusätzlich zu den neun schon vorhandenen Lagern. Die Schlinge zieht sich enger, denn das Ziel lautet überall gleich: Lieferung am selben Tag, wenn möglich innerhalb einer Stunde. Die Kunden müssen noch nicht einmal mehr am Computer bestellen. Amazon Echo heißt das Gerät, das künftig im Wohnzimmer steht und Sprachbefehle wie „Kaufe Kaffee“ direkt in eine Bestellung umwandelt.

Weltmeister des Testens

Bezos gilt als Weltmeister des Testens: Täglich werden die Website oder die mobile App tausende Mal verändert, um bessere Ergebnisse zu erhalten. Forschungsergebnisse belegen, dass oft die systematische Nutzung von Experimenten dieser Art die Innovatoren von ihren weniger erfolgreichen Konkurrenten unterscheidet. Das hat Bezos früh erkennt. „Wir haben versucht, die Kosten der Experimente zu reduzieren, damit wir mehr davon machen konnten. Wenn man aber jeden Tag Tausende und nicht nur Hundert Experimente macht, kann man die Zahl der Innovationen dramatisch erhöhen“, verrät Bezos eines seiner Erfolgsgeheimnisse.

Experimente gehen allerdings auch oft daneben. Wie das Smartphone Fire Phone, das niemand haben wollte. Kein Problem für Bezos; Rückschläge gehören dazu.  „Ich habe Milliarden Dollar bei Amazon in den Sand gesetzt. Aber mein Job ist es, die Leute zu ermuntern, kühn zu sein. Und wenn du kühne Wetten eingehst, führt das zu Experimenten. Experimente tragen das Scheitern schon in sich,“ erklärt der vierfache Familienvater, der mit der preisgekrönten Schriftstellerin MacKenzie Bezos verheiratet ist.

„Werde ich es bereuen, nicht dabei gewesen zu sein, als das Internet losging?“

Dass er Risiken mag, zeigte sich schon 1994, als er Amazon gründete. Zu der Zeit hatte er sich als 30-Jähriger bereits als Investmentbanker an der Wall Street in eine Führungsposition hochgearbeitet. Damals las er einen Artikel, der dem Internet 2300 Prozent Wachstum im Jahr vorhersagte. Die Zahl ließ Bezos nicht mehr los. „Wenn ich 80 bin“, fragte er sich selber, „werde ich es dann bereuen, die Wall Street verlassen zu haben? Nein. Werde ich es aber bereuen, nicht dabei gewesen zu sein, als das Internet losging? Ja“. Also schrieb er eine Liste mit 20 Produkten auf, die sich möglicherweise im Internet verkaufen ließen.

Am Ende fiel die Wahl auf Bücher, vor allem weil es so viele davon gab. Kein Buchladen konnte alle Bücher in seinem Bestand haben. Im Internet aber ist das kein Problem. In einer Garage in Seattle baute er die Datenbank auf; die Verhandlungen mit Lieferanten führte er ironischerweise im nahegelegenen Buchladen von Barnes & Nobles, einem seiner größten Konkurrenten. Im Juli 1995 ging der selbsternannte „Größte Buchladen der Erde“ dann live. Später wurde das Ziel dann zum „Größten Kaufhaus der Erde“ ausgeweitet. Das erste Ziel hat er erreicht; vom zweiten ist er nicht mehr weit entfernt. Auch der Dot-com-Crash im Jahr 2001 oder ein Hubschrauberabsturz 2003 konnten ihn nicht aufhalten.

65000 externe Händler auf der Amazon-Plattform in Deutschland

Diesen „Long Tail“ zu besetzen, war von Anfang an sein Ziel. Und ist bis heute einer der Erfolgsgaranten des Online-Handels: Im Netz bekommt der Kunde alles; Limits gibt es nicht. Für das Ziel lässt Amazon auch andere Händler auf seinem Marktplatz verkaufen. Mit großem Erfolg: Im vergangenen Jahr war der Umsatz dieser etwa 65000 externen Händler in Deutschland erstmals größer als das Eigengeschäft von Amazon. Für Bezos kein Problem: „Wenn die Provision, die wir von den Händlern bekommen, unserer Gewinnmarge entspricht, ist das in Ordnung“, sagte er schon 2008.

Das Nachsehen hat die Konkurrenz: Etwa die Hälfte des Online-Handelsumsatzes in Deutschland entfällt schon auf die Amazon-Plattform. Die meisten Online-Shopper suchen inzwischen gar nicht mehr nach einem Lieferanten, sondern beginnen die Suche nach einem Produkt direkt bei Amazon – selbst wenn Amazon in den meisten Fällen heute gar nicht mehr der billigste Anbieter ist. Preisvergleichsseiten bringen meist günstigere Anbieter zu Tage, aber das ist den treuen Amazon-Kunden heute egal.

Amazon-Plattform

Hier liegt ein wichtiger Teil der Philosophie von Bezos begründet: Wenn ein Unternehmen es schafft, seine Kunden glücklich zu machen, profitiert es am Ende am meisten davon. Also soll Amazon das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt werden, mit günstigen Preisen, großer Auswahl, schneller Lieferung, kulantem Umtausch und gutem Service. Diesen Zielen ordnet Bezos alles andere unter. Auch wenn es manchmal weh tut. Was auch seine Mitarbeiter zuweilen schmerzlich erfahren müssten Als es in einem Weihnachtsgeschäft Beschwerden hagelte, die Hotlines seien zu schwach besetzt, fragte Bezos den verantwortlichen Manager, wie lange ein Kunde warte müssen. Maximal eine Minute, sagte der Mann. Also wagte Bezos den Testanruf – und musste mehrere Minuten warten. Der Manager war schon bald nicht mehr für Amazon tätig. Allzu zimperlich ist Bezos mit seinen Leuten nicht. Wer seine Linie nicht konsequent mitgeht, fliegt ziemlich schnell wieder raus. Streit gibt es auch immer wieder mit den Gewerkschaften, die Amazon vor allem in Deutschland gerne und oft bestreiken.

Roboter sind 20 Prozent produktiver als Menschen

Was die Amazon-Kunden allerdings kaum noch merken: Längst ist der Netz der Logistikzentren in Europa so eng, dass deutsche Kunden quasi ohne nennenswerte Zeitverzögerung aus dem umliegenden Ausland beliefert werden können. Ohnehin sind streikende Lagerarbeiter für Bezos nur eine vorübergehende Erscheinung: Zehntausende Roboter fahren inzwischen durch die Amazon-Lager und transportieren die kompletten Regale mit den gewünschten Produkten. Um etwa 20 Prozent sind die Maschinen heute schon produktiver als die Menschen – und werden ihren Vorsprung weiter ausbauen. In wenigen Jahren werden Menschen in den Logistikzentren vorwiegend für die Überwachung der Maschinen nötig sein, lautet die Vision. Bis dahin wird aber noch kräftig gestreikt.

Davon lässt sich Bezos allerdings überhaupt nicht beeindrucken- und expandiert werden, und zwar in alle Richtungen. Horizontal, vertikal und regional.

  • Horizontal: Immer mehr Produkte kommen hinzu. Das neueste Wachstumsfeld heißt Amazon Business und enthält Produkte für Unternehmen wie Büromaterial. Eine Milliarde Dollar setzt Amazon schon diesen Produkten um. Lebensmittel unter der Marke „Amazon Fresh“ könnten der nächste große Wachstumsmarkt werden. Und auch im Zukunftsmarkt 3D-Druck ist Bezos schon dabei: Der Konzern hat ein Patent für einen 3D-Drucker auf einem Lastwagen, der eilig benötigte Produkte direkt vor der Haustür des Kunden druckt. Da Daten schneller fließen als Güter, gelten 3D-Drucker ohnehin als Produktionstechnik der Zukunft.
  • Regional: Amazon ist bisher erst in elf Ländern vertreten. Südamerika, Afrika, Australien, Russland sind (noch) Amazon-freie Zonen. Angekündigt ist die weitere Ausdehnung nach Australien; auch Südostasien wird schon bald folgen. Dort sind allerdings schon der chinesische Händler Alibaba und die deutsche Rocket Internet der Samwer-Brüder aktiv. Bisher sind die drei Konkurrenten in keinem Land in direkten Wettbewerb getreten.
  • Vertikal: Amazon übernimmt größere Teile der Wertschöpfungskette, also vor allem durch die Ausweitung der Logistikkette. Mit einer eigenen Flugzeugflotte und auch Containerschiffen in Betrieb könnten Amazon die Logistik vom Hersteller bis zum Kunden bald komplett aus Hand bedienen. Das wäre eine Kampfansage an die Logistiker wie DHL oder UPS, denn Amazon hat schon oft eigene Systeme aufgebaut und sie dann auch anderen Unternehmen zur Verfügung gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Amazon eines Tages nicht nur das größte Kaufhaus, die größte Cloud und die größte Bibliothek, sondern auch das größte Transportunternehmen der Welt ist, bereitet den Konkurrenten schon heute Bauchschmerzen. Denn auch auf der sogenannten letzten Meile zum Kunden setzt Bezos auf eigene Lieferdienste oder Drohnen.

Nur die Physiker waren schlauer

Doch die Welt ist ihm nicht genug. In seinem privaten Unternehmen „Blue Origin“ entwickelt er wiederverwendbare Raketen für den Weltraumtourismus. Doch ein paar Minuten Schwerelosigkeit sind nur der Anfang. „Ich möchte Millionen von Leuten im Weltraum leben und arbeiten sehen“, verrät er seinen Traum, den er seit der Kindheit träumt – und sich inzwischen leisten kann, das Ziel anzugehen. Und als Hobby hat er sich die Washington Post gekauft also die Zeitung, deren Reporter damals den Watergate-Skandal aufdeckten. Bezos will diese Institution der amerikanischen Demokrate erhalten und investiert Millionen in neue Redakteure, vor allem aber neue Technik, um die Zeitung fit für das digitale Zeitalter zu machen. Erste Ergebnisse zeigen: Selbst das könnte dem Erfolgsverwöhnten gelingen.

Seine letzte Niederlage liegt ohnehin schon lange zurück. An der Universität hatte er sich zunächst für Physik eingeschrieben. „Ich schaute mich im Raum um und mir war klar, dass dort drei Menschen saßen, die viel viel schlauer als ich waren und deren Gehirne anders als meins verdrahtet waren“. Bezos wechselte daraufhin das Studienfach zu Informatik. Unfehlbar ist er also nicht. Seine Konkurrenten können noch hoffen. Etwas jedenfalls.