Das digitale Gehirn denkt wieder

Evernote funktioniert als das ausgelagerte Gedächtnis von 200 Millionen Nutzern prächtig. Doch als sich der CEO Phil Libin verzettelte, musste er gehen. Nun hat Ex-Googler Chris O’Neill begonnen, die Produktivität der Wissensarbeiter zu erhöhen. Mit Spracherkennung und künstlicher Intelligenz.

Eigentlich standen die Wetten auf Evernote als erstes sterbendes Einhorn schon ziemlich hoch. Evernote hatte 2015 den unrühmlichen Spitzenplatz auf der Todesliste erreicht, weil sich Vorstandschef Phil Libin (rechts) komplett verzettelt hatte. Unnütze Chat-Funktionen und sogar eine App, um sein Essen zu dokumentieren, hatte Libin gebaut – und dabei offensichtlich das Ziel aus den Augen verloren. Denn Evernote war und ist ein digitales Notizbuch, um alle möglichen Websites oder Dokumente, gesprochene oder handgeschriebene Notizen bequem an einem Ort zu speichern. 200 Millionen Wissensarbeiter – Forscher, Journalisten, Professoren oder Studenten – nutzen Evernote inzwischen als ihr digitales Gehirn im Netz. Rund 100000 Menschen registrieren sich jeden Tag neu. Doch in dem Dickicht neuer Funktionen fühlten sich immer weniger Nutzer gut aufgehoben und waren nicht bereit, für Zusatzfunktionen über das kostenlose Basisangebot hinaus zu zahlen.

Information-Overload beenden

Im vergangenen Jahr zog Gründer Stepan Pachikov die Reißleine, setzte Libin und einige altgediente Manager über Nacht vor die Tür und engagierte den Ex-Googler Chris O’Neill als neuen Chef, um Evernote zurück zu seinen Wurzeln zu bringen. Mit einigem Erfolg: O’Neill hat viel Ballast über Bord geworfen und macht wieder das, was das Unternehmen am besten kann: „Diese Konzentration auf das Wesentliche und die Irrwege zu beenden – das war mein Job im ersten Jahr bei Evernote. Unsere Aufgabe besteht nun wieder eindeutig darin, den Informations-Überfluss zu beenden“, sagte O’Neill und verriet im Focus-Interview, an welchen neuen Funktionen Evernote arbeitet.

„Tippen auf dem Smartphone – das ist verrückt“

Ganz wichtig ist für ihn die Spracherkennung. „Heute tippen wir auf unseren Smartphones mit den Fingern. In drei, vier oder vielleicht fünf Jahren werden wir zurückblicken und denken, wie verrückt das war“, sagt ONeill. Er erwartet den Durchbruch für die Spracherkennung als nächsten großen Schritt. Bei Google werde schon ein Viertel der Suchanfragen per Sprache gestellt. Amazon Alexa dringe immer stärker vor und Apple habe seinen intelligenten Assistenten Siri für alle Entwickler geöffnet. „Das wird enorm helfen. Evernote steht kurz davor, Spracherkennung einzuführen. Dann wird das gesprochene Wort automatisch in Text umgewandelt und durchsuchbar“, hofft er. Das mühsame Abtippen von Mitschriften oder Erstellen von Protokollen könnte dann entfallen.

Damit helfen ihm die enormen Fortschritte in der künstlichen Intelligenz. „Wenn wir anhand der gespeicherten Texte identifizieren, für welchen Themen sich ein Nutzer interessiert, dann hilft dieses Wissen bei der Analyse der gesprochenen Wörter. Die Software lernt zum Beispiel Fachbegriffe, die in keinem normalen Wörterbuch vorkommen und erkennt sie beim nächsten Mal direkt“, erklärt er.

Das Gehirn merkt sich handgeschriebene Texte besser

Fortschritte erwartet er auch bei der Erfassung von handgeschriebenen Texten. Es sei wissenschaftlich bewiesen, dass der Mensch sich die Dinge, die er mit der Hand geschrieben hat, besser merken könne als die Information, die er auf dem Computer geschrieben habe. „Das Gehirn denkt beim Schreiben mit, aktiviert also größere Teile als beim Tippen. Mein Sohn hat keine schöne Handschrift und wollte seine Notizen in der Schule auf einem Computer machen. Das habe ich ihm verboten. Er schreibt weiterhin mit der Hand“, sagt O’Neill.

Aber er muss zugeben, dass die Techniken zur digitalen Erfassung der Handschriften noch nicht allzu weit fortgeschritten sind. Stifte von Livescribe, die Geschriebenes auf Papier ins Digitale übertragen, oder auch der Apple-Pencil, mit dem direkt auf dem iPad geschrieben wird, seien noch das Ende der Entwicklung. „Ich bin ziemlich sicher, dass wir bald deutliche Fortschritte auf diesem Gebiet sehen. Beide Eingabemethoden werden Evernote sehr helfen“.

Produktivität der Wissensarbeiter erhöhen

Um die Produktivität der Wissensarbeiter zu erhöhen, investiert Evernote in künstliche Intelligenz. Sie soll Dinge automatisch erledigen. „In fünf Jahren werden Dinge ihren Weg zu Evernote finden, ohne dass Nutzer dies explizit sagen müssen. Ich denke an Bots, die zum Beispiel alle Rechnungen automatisch an einem Ort speichern, damit die lästige Suche bei der Steuererklärung entfällt“, sagt O’Neill. Die Arbeit an diesen Bots habe schon begonnen.  Evernote wolle vorausahnen, was der Nutzer möchte. Zum Beispiel Fotos verschlagworten und mit anderen verknüpfen. „Wie bei Google: Suche ohne Suche – das ist eine Richtung, in die wir gehen“.

Das Ziel dahinter lautet immer, die Produktivität der Nutzer zu erhöhen. „Wir wollen die Fähigkeit der Nutzer erhöhen, länger als 15 oder 20 Minuten ohne Störung an einer Aufgabe zu arbeiten. Das nennt man „deep Work“ und Evernote soll die Killer-Anwendung für deep work werden“, sagt O’Neill. Sorgen, dass Evernote finanziell die Luft ausgeht, müssten sich die Nutzer nicht machen. Das Unternehmen sei durchfinanziert und stehe kurz vor dem Erreichen der Gewinnzone. Eine weitere Finanzierungsrunde sei nicht mehr nötig. Zumal die Zahl der zahlenden Kunden im vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen sei und in diesem Jahr noch schneller zulege. Den Börsengang, den sein  Vorgänger in Aussicht gestellt hat, verfolge er auch. Aber eilig habe Evernote es nicht damit.


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