Zwischenbilanz Industrie 4.0: In Deutschland fehlen digitale Geschäftsmodelle und der nötige Pioniergeist

5 Jahre nach Erfindung des Begriffs „Industrie 4.0“ herrscht bei Unternehmen weiter große Unsicherheit, wie digitale Geschäftsmodelle aussehen und wie sie damit Gewinn erzielen können. Das Ergebnis überrascht weniger als der Absender dieser Botschaft: die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Miterfinder des Industrie-4.0-Konzeptes

Seit 2011 versucht sich die deutsche Industrie an ihrer digitalen Transformation unter dem Stichwort „Industrie 4.0“. Ausrüster wie Siemens oder SAP bieten inzwischen die nötige Software, aber das produzierende Gewerbe ist über die Ebene von Pilotanwendungen bisher selten hinausgekommen. „Es herrscht eine erhebliche Unsicherheit, wie mit Industrie 4.0 Gewinn erzielt werden kann und wie entsprechende Geschäftsmodelle aussehen“, heißt es in der Studie „Industrie 4.0“ der Deutschen Akademie der Technikwissenschaft (Acatach), die auch den wichtigen Vergleich mit den Digitalisierungspfaden anderer Länder wie den USA oder China herstellt, die ihre digitale Transformation ganz anders anpacken. Das kritische Urteil der Acatech überrascht, da die Organisation zu den Miterfindern des Begriffs gehört.

Danach besitzt Deutschland zwar eindeutige Stärken in den klassischen Themen Nachhaltigkeit, Ausbildung, Zugang zu Märkten und Sicherheit. Hinter den Kulissen ist auch viel notwendige Standardisierungsarbeit geleistet worden. Nach Ansicht der Autoren fehlen Deutschland aber vor allem die passenden Geschäftsmodelle und der Pioniergeist; auch der Zugang zu Kapital und die Erfahrung, nutzerfreundliche Produkte zu entwickeln, werden als Schwäche betrachtet.

Industrie 4.0 ≠ Digitale Transformation

Das Urteil überrascht wenig, denn Industrie 4.0 optimiert als „Digitalisierung der Fabriken“ weitgehend die vorhandenen Geschäftsmodelle. Das bringt zwar Effizienzgewinne, hilft aber nur wenig bei der digitalen Transformation und der Reaktion auf disruptive Geschäftsmodelle. Das „Innovator’s Dilemma“ von Clayton Christensen beschreibt aber genau dieses Optimieren auf dem eingeschlagenen Pfad als den großen Fehler der etablierten Unternehmen.

Die notwendige Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die eigentlich am Anfang der digitalen Transformation stehen müsste, wird in vielen Fällen gar nicht erst angepackt. Nur 5 bis 6 Prozent der Unternehmen in Deutschland treiben die Transformation ernsthaft voran, sagt Michael Hüther, dem Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Entsprechend gering ist das Wissen über diese Geschäftsmodelle: Noch nicht einmal die Hälfte der Entscheidungsträger in Deutschland kennt das auf vielen Märkten favorisierte Plattform-Modell, hat eine Umfrage des Bitkom ergeben. (Wer sich informieren will: Die Passage Digitale Geschäftsmodelle meiner Vorlesung „Digitale Transformation“ an der TU Darmstadt zeigt, wie Plattformen funktionieren.) Auch „Digital Leadership“ ist in Deutschland nicht allzu weit verbreitet: In gut der Hälfte der Unternehmen ist Digital Leadership quasi kein Thema.

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Als Problem sehen die Autoren auch die nicht ausreichenden Kompetenzen aus dem Consumer-Internet, die sich auf den B2B-Bereich übertragen lassen. „International bestehen Zweifel, ob es Deutschland gelingen werde, die vorhandenen Kernkompetenzen in der Produktionstechnik um komplementäre digitale Kompetenzen zu erweitern“, heißt es in der Studie.

Aus der deutschen Tugend, stark auf Sicherheit und Stetigkeit des Geschäftsmodells fokussiert zu sein, könne nun eine Not werden, die Geschäftsmodelle schnell genug an die Digitalisierung anzupassen. Denn selbst wenn die Entscheider die Notwendigkeit des Wandels erkannt haben, liegt ein weiteres Problem in der Umsetzung: Die Mitarbeiter auf dem neuen Weg mitzunehmen, erfordert viel Management-Geschick. Die Transformation ist umso schwieriger, je erfolgreicher das Unternehmen in der Vergangenheit war.

Auch die emotional geführte Datenschutz-Debatte helfe nicht weiter: Sie stehe nicht nur vielen datengetriebenen Geschäftsmodellen im Wege, sondern verhindere auch einen Blick unter Kosten-Nutzen-Aspekten auf das Thema.

Kräfte der Europäer bündeln

Vor allem der Finanzkraft der US-Konzerne wie Google/Alphabet, Facebook oder Amazon, die ihnen auch sehr riskante, große Wetten erlaubt, haben die Europäer im Moment wenig entgegenzusetzen. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, fordert daher einen Zusammenschluss der Europäer:

Reimund Neugebauer

Reimund Neugebauer

„Wir alle gemeinsam in der Europäischen Union verfügen über Summen, mit denen wir solchen Projekten oder auch dem Silicon Valley Paroli bieten können. Wir müssen uns nur unter den europäischen Nationen einigen, um bei großen, disruptiven Veränderungen zusammenzuarbeiten. Die Chancen sind groß – aber auch die Risiken. Selbst unsere Konzerne wie Siemens, Volkswagen oder Daimler könnten dieses Risiko nicht so einfach verkraften, deshalb kann man das nur gemeinschaftlich angehen. Solche Projekte sind der Schlüssel für die technologische Souveränität Europas. Und nur wenn wir diese Souveränität in Hardware und Software sichern, werden wir auch unsere politische Souveränität behalten. Das ist in der Politik derzeit noch nicht auf der Tagesordnung.“ (Quelle: FAZ)

Buch zur digitalen Transformation

Am 15. September erscheint „Deutschland 4.0 – Wie die Digitale Transformation gelingt“. Prof. Tobias Kollmann und ich haben aufgeschrieben, wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeit und Technologie zusammenwirken müssen, damit die Transformation gelingt. Wir haben dafür den digitalen Status Quo Deutschlands analysiert und die nötigen Schritte abgeleitet, um Deutschland fit für das digitale Zeitalter zu machen. Wir machen deutlich, dass digitale Transformation viel mehr als die Vernetzung der Fabriken bedeutet, sondern deutliche Veränderungen in Bildung, Arbeitsmarkt, Politik und Wirtschaft erfordert. Das Buch richtet sich an ein breites Publikum und erklärt allgemein verständlich, wie die Digitalisierung unser aller Leben und Arbeit künftig beeinflusst und was nun geschehen muss, damit Deutschland als Gewinner aus der Transformation hervorgeht.

Deutschland 4.0 – Wie die Digitale Transformation gelingt (Deutschland40.digital)

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