60 Prozent der Großunternehmen treiben digitale Transformation nicht ernsthaft voran

Nur in 6 Prozent der Unternehmen mit mehr als 250 Mio. Euro Umsatz ist die Digitalisierung das Top-Thema des Managements. Die Mehrheit sieht die Transformation ins Digitale als weniger wichtig oder gar überflüssig an, zeigt eine Umfrage unter 2000 Firmen aus Deutschland.

Die digitale Transformation sollte 2016 in eigentlich jeder Chefetage als Thema angekommen sein. Roboter, 3D-Druck, künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Sensorik – der technische Fortschritt beschleunigt sich auf vielen Gebieten, senkt Markteintrittsbarrieren und bringt neue Wettbewerber ins Spiel. Was Amazon mit dem Handel gemacht hat oder wie Google und Tesla gerade die Autoindustrie herausfordern, sollte für die CEOs genügend Ansporn sein, die digitale Transformation des eigenen Unternehmens entschlossen voranzutreiben. Doch so weit ist es offenbar immer noch nicht. Drei von fünf Großunternehmen nehmen die digitale Transformation nicht ernsthaft in Angriff, zeigt eine aktuelle GfK-Umfrage im Auftrag von Etventure unter 2000 Unternehmen dieser Größenklasse in Deutschland.

Nur in 6 Prozent der Unternehmen mit mehr als 250 Millionen Euro Jahresumsatz nimmt die digitale Transformation den höchsten Stellenwert der Entscheider ein. In weiteren 35 Prozent gehört die Digitalisierung immerhin zu den Top-3-Themen des Managements, während es in 43 Prozent gerade einmal in die Top 10 geschafft hat und in 16 Prozent überhaupt keine Rolle spielt. Einen Inkubator ins Leben zu rufen, die Krawatten abzulegen, konzernweit zum „Du“ überzugehen oder sich am Silicon-Valley-Tourismus zu beteiligen ist offenbar eine Sache; die Digitalisierung ernsthaft anzugehen eine andere.

Eine Ausnahme bildet dabei offenbar die Autobranche, die nach einigen Wake-up-Calls (Google Auto, Tesla, VW-Abgasskandal) inzwischen in Richtung Digitalisierung marschiert. „Für den Volkswagenkonzern rückt die digitale Transformation ganz nach oben auf der Agenda“, sagte der CEO Matthias Müller auf dem Genfer Automobilsalon, wo allerdings die PS-Boliden immer noch im Mittelpunkt standen.

Etventure

Das zeigt sich auch an der Verteilung der Zuständigkeit für das Thema: In mehr als der Hälfte der befragten Unternehmen wird die Transformation nicht vom CEO oder Vorstand geleitet, sondern nur von untergeordneten Stellen. „Wenn komplette Geschäftsmodelle und -abläufe eines Unternehmens digitalisiert und in Frage gestellt werden sollen, greift das tief in sämtliche Prozesse sowie in die Kultur des Unternehmens ein. Das bedeutet für das Unternehmen: Ist der Vorstand nicht Treiber des Digitalprozesses, wird die digitale Transformation nicht gelingen“, sagt Philipp Depiereux, Gründer von Etventure. Je stärker Vorstände und Geschäftsführer die Digitalisierung steuern, desto häufiger wird sie ein Erfolg.

Immerhin besteht Aussicht auf Besserung: In sechs von zehn Großunternehmen ist der Stellenwert der digitalen Transformation in den vergangenen zwölf Monaten gestiegen. Denn die digitale Disruption ist in vielen Branchen längst auf dem Weg. Branchen, deren Produkte schon komplett digitalisiert sind (Technologie, Medien, Finanzen und Telekommunikation) oder deren Produkte von Digitalplayern wie Amazon effizienter vermittelt oder billiger angeboten werden (Handel, Bildung, Reise), sind zuerst in den Digitalisierungsstrudel geraten. Konsumgüterhersteller, Gesundheit, Versorger, Öl & Gas sowie die Pharmafirmen erleben dagegen erst die Anfänge der Digitalsierung, zeigt eine Studie von Cisco/IMD (PDF).

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Verteidigung bestehender Strukturen

Als Haupthindernis nennen die Befragten die Verteidigung bestehender Strukturen, gefolgt von fehlender Zeit, was bei einem so wichtigen Thema kein Argument sein sollte. „Im Vergleich mit anderen Ländern zeigen deutsche Manager die geringste Flexibilität“, kritisiert Yuri van Geest von der Singularity University. Er rät Unternehmen, sich selbst in Startups zu zerlegen, um wieder Tempo aufzunehmen. „Klassische Entscheidungswege, die Hierarchien rauf und runter, dauern heute viel zu lange“, sagt van Geest. 56 Prozent der Unternehmen sehen eine Kooperation mit Startups daher als hilfreich an und 31 Prozent arbeiten schon konkret mit einem jungen Unternehmen zusammen. Sie erhoffen sich Zugang zu neuen Technologien, schnellere Innovationen und raschere Umsetzung von Pilotkonzepten. Van Geest wirft deutschen Unternehmen vor, die digitale Transformation aufgrund ihrer großen Erfolge in der Vergangenheit viel zu zaghaft angehen. Sich selbst zu kannibalisieren, sei die Ausnahme.

Etventure-Huerden

Wie man es richtig macht, zeigt übrigens Bosch. Das Unternehmen hat gerade verkündet, 14000 Akademiker in aller Welt für die digitale Transformation einzustellen. Allerfeinstes Employer Branding.