„Jeder will bei uns sehen, wie Industrie 4.0 funktioniert“

Deutschland hat beim Thema Industrie 4.0 einen Vorsprung von 2 bis 3 Jahren vor der Konkurrenz, sagt Wolfgang Wahlster vom DFKI. Aber wir müssen jetzt Vollgas geben, bevor die Amerikaner wieder die Standards setzen.

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Es ist das große Zukunftsprojekt der deutschen Wirtschaft: die vierte industrielle Revolution oder kurz Industrie 4.0.  Das Schlagwort steht für die Vernetzung der Produktion mit der Logistik bis hin zum Verbraucher mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationssysteme. Gleich 8 Mal taucht der Begriff in der Digitalen Agenda der Bundesregierung auf. Obwohl Deutschland der Erfinder des Begriffs ist und aufgrund seiner starken Position in den klassischen Industriesektoren sich gut aufgestellt sieht, schläft die Konkurrenz nicht. Im angelsächsischen Sprachraum wird das „Industrial Internet“ ebenfalls gefördert. Wolfgang Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken und einer der Industrie-4.0-Päpste in Deutschland, nennt die Dinge, die nun getan werden müssen, damit Deutschland in dieser Disziplin führend bleibt.


„Industrie 4.0 darf nicht nur ein bloßes Schlagwort bleiben“, sagte Günther Oettinger, der neue EU-Kommissar für die digitale Wirtschaft. Wie weit ist Industrie 4.0 in Deutschland schon gekommen – auch im Vergleich zum Ausland? Hat Deutschland als Erfinder des Begriffs noch einen Vorsprung?

Deutschland hat in der Forschung und praktischen Umsetzung in Industrie 4.0 einen Vorsprung von 2 – 3 Jahren. Unsere Smart Factory am DFKI war weltweit die erste Demonstrationsfabrik, die cyber-physische Produktionssysteme in einer realen Fertigung als Smart Factory realisiert hat. In dieser ersten Smart Factory sind  über 30 deutsche Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau  beteiligt. Wir können dort die Vorteile von Industrie 4.0. herstellerneutral an kompletten Produktionslinien für individualisierte und digital veredelte Produkte herausarbeiten. In unserer Smart Factory in Kaiserslautern geben sich internationale Unternehmensführer inzwischen die Klinken in die Hand, weil jeder sehen will, wie Industrie 4.0 praktisch funktionieren kann.

Standards werden heute nicht mehr am grünen Tisch, sondern am Markt etabliert. Ist die deutsche Wirtschaft, die viel über Standards in diesem Feld diskutiert, auf dem richtigen Weg und dabei auch schnell genug unterwegs?

Wir haben erste Standardisierungsvorschläge in großen Kooperationsprojekten erarbeitet und müssen diese jetzt in den internationalen Normungsgremien durchsetzen. Gerade letzte Woche hatten wir eine Treffen mit dem amerikanischen Chef von W3C in Berlin, das für offene Standards im Web zuständig ist. Wir müssen jetzt Vollgas geben, um unsere Pole-Position in einen Start-Ziel-Sieg bei der Standardisierung umzusetzen: das geht nur über offene Standards, die aber aus Deutschland getrieben werden müssen. Derzeit versuchen Amerikaner und Asiaten aus ihrer starken Position in der Internettechnologie uns bei der Standardisierung zu überholen. Aber dort fehlt den Konsortien an dem Know-How im Bereich der eingebetteten Intelligenz im Maschinen- und Anlagenbau, in dem große Unternehmen wie Siemens und Bosch, aber besonders auch der starke deutsche Mittelstand einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung haben.

Wo liegen die schnell erreichbaren Vorteile der Vernetzung; welche positiven Effekte werden erst in Jahrzehnten sichtbar?

Der Vorteil liegt daran, immer stärker individualisierte Produkte in kleinen Losgrößen zu den Bedingungen und Preisen eine Massenproduktion herstellen zu können. Industrie 4.0 verkürzt die Umrüstzeiten in Fabriken, erlaubt eine flexible und adaptive Produktion. Durch die Vernetzung vereinfacht sich auch die Wartung und die Steuerung von Fabriken. Der Mensch arbeitet in der Smart Factory Hand in Hand mit einer neuen Generation von Leichtbau-Robotern im Team zusammen. Diese unterstützen ihn ihn als Assistenzsysteme bei seiner Arbeit. Die Facharbeiter und Ingenieure stehen aber auch bei Industrie 4.0 mit ihrer kognitiven Überlegenheit gegenüber den Maschinen im Mittelpunkt, um innovative, digital veredelte Produkte fertigen zu können

Wo sehen Sie die größten Hürden in Deutschland? Fehlen uns große IT-Konzerne wie Google, IBM oder Microsoft, die in Amerika die Entwicklung treiben? Oder anders formuliert: Können unsere klassischen Industrieunternehmen die nötige Software so schnell und so gut entwickeln wie die Amerikaner?

Die Programmierung eingebetteter Computersysteme mit Echtzeitfähigkeiten wird in deutschen Industrie-Unternehmen sehr gut beherrscht: das sind Spezialisten, die z.B. Google und Microsoft nicht in so großer Zahl haben. Wir sind auch in der Forschung zur Softwareentwicklung für cyber-physische Systeme gut aufgestellt. Allerdings brauchen wir eine Ausbildungsinitiative auf dem Gebiet, weil Industrie 4.0 in den nächsten Jahren viel mehr Spezialisten an der Schnittstelle von Informatik und Maschinenbau benötigt. Besonders für die Zuverlässigkeit und Robustheit ist die deutsche Software in Produktionsanlagen weltbekannt, während wir ja alle täglich die leidige Erfahrung machen, dass amerikanische Software jede Menge Fehler enthält und wir auf Smartphones und Notebooks fast wöchentlich neue korrigierte Software einspielen müssen: so etwas können wir uns in Industrie 4.0 nicht erlauben.

Eine Hürde für das Internet der Dinge in Fabriken ist derzeit noch, dass die Echtzeitreaktion von unter 1 Millisekunde zumindest im Mobilfunk heute noch nicht garantiert werden kann. Hier sollte man endlich begreifen, dass die garantierte minimale Latenzzeiten für die Reaktion im Internet für viele Anwendungen in Deutschland viel wichtiger sind als immer größere Bandbreiten. Es macht ja keinen Sinn, wenn eine Warnung vor einer Kollision zwischen zwei Autos und ein Notaus-Befehl in einer Fabrik nicht rechtzeitig ankommt, nur weil unsere Netze immer mehr auf das Empfang hochauflösender Unterhaltungsvideos amerikanischer Unternehmen optimiert werden. Eine weitere Hürde ist, dass die vierte industrielle Revolution als Evolution umgesetzt werden muss und wir noch mehr Migrationspfade erarbeiten müssen, um die vielen Bestandsfabriken auf das Zeitalter von Industrie 4.0 in kleinen Schritten umzustellen.